Die japanische Bambusflöte Shakuhachi gelangte etwa im 7. Jahrhundert von China nach Japan und wurde im 13. Jahrhundert von buddhistischen Mönchen gespielt, vorrangig, um die Atmung zu schulen. Die Shakuhachi wurde dabei nicht als ein Musikinstrument angesehen, sondern sie diente als eine Art „Werkzeug des Zen“. In der heutigen Zeit ist die Shakuhachi sehr wohl auch als wundervoll klingendes Musikinstrument zu hören, sowohl in ihrer traditionellen Spielweise, wie auch in der „Neuen Musik“.
Als ich zum ersten Mal den Klang einer Shakuhachi gehört habe, war ich von dem Ton wie elektrisiert. Es war auf einer Ausstellungseröffnung auf der über Lautsprecher traditionelle Shakuhachi-Musik zu hören war. Zu der Zeit hatte ich gerade angefangen Querflöte zu studieren und hatte ein offenes Ohr für jede Art von Flötenmusik. Wie anders war doch der Klang dieser Shakuhachi … ein völlig neuer Höreindruck. So zart und kraftvoll zugleich und die Luft so deutlich hörbar und mitgestaltend. Während es bei der Querflöte darum ging, möglichst geräuscharm, d.h. ohne Luftgeräusche zu spielen, war der Klang der Shakuhachi tief gebettet in einer Woge von Luftwirbeln, die den Ton zu umkreisen schienen. Die Luftgeräusche gehörten einfach dazu, waren kein Störfaktor und auch nicht wegzudenken für das Klangerlebnis dieser Flöte.
Nach dem Studium hatte ich das Glück selbst diese Flöte spielen zu lernen und konnte unter der Anleitung von guten Lehrern ein Repertoire von traditionellen Stücken erarbeiten.
Welch ein Unterschied zwischen der Shakuhachi Bambusflöte und dem Querflöten-Studium:
Es gibt keine Didaktik. Schon das erste zu erlernende Stück enthält alle Schwierigkeiten, die einem beim Shakuhachi-Spielen begegnen können. Es geht eben nicht darum, gleich alles zu können, sondern beim Lernen Geduld zu entwickeln.
Die Notation ist nur eine Erinnerungshilfe und gibt nur in groben Zügen wieder, wie das Stück zu spielen ist. Dazu werden neben einer graphischen Notation japanische Katakana-Zeichen verwendet, die symbolhaft zeigen, welche Tonlöcher geöffnet bleiben. Hier wird also gezeigt, was gelassen und nicht was getan werden soll.
Die Stücke werden im Unterricht imitatorisch gelernt. Alles soll sich im Hören und Nachspielen erklären und zeigen, ohne zusätzliche Worte oder Diskussionen.
Es gibt keinen ausnotierten Rhythmus.
Eine Phrasenlänge wird hauptsächlich durch die Länge des Atems geprägt, nicht durch einen musikalischen Gedanken.
Dazu gibt es eine Schlüsselübung, die in vielen Musik- und Flötenkulturen wiederzufinden ist. "Robuki" - frei übersetzt bedeutet „Ro“, den tiefsten Ton auf der Shakuhachi zu blasen. Diese Übung wird als eine der wichtigsten angesehen, um den Atem und gleichzeitig auch die Gestaltung des Flötentons zu schulen. Wiedergefunden habe ich diese „königliche“ Übung auch in der indischen Musik, beim Spielen der Bansuri und auch in der arabischen/persischen Musik, dem Spielen der Nay (Ney). Auch in einer Vielzahl von Lehrbüchern zum Querflötenspiel ist nachzulesen, wie bedeutsam und wertvoll es ist, nur einen Ton über eine lange Zeit wiederholt zu spielen.
Warum die Robuki-Praxis für mich so wichtig ist und welche heilenden Eigenschaften in ihr zu finden sind, entdecke ich immer wieder neu, seit ich Robuki praktiziere.
Klang In einer Versuchsreihe wurden die Klänge verschiedenster Musikinstrumente mit den Frequenzen von Naturgeräuschen verglichen und nach Ähnlichkeiten untersucht. Die Shakuhachi kam dabei am nächsten dem Klang eines „murmelnden Baches“. Jeder kann ausprobieren, wie entspannend und wohltuend es ist, sich in der Nähe eines plätschernden murmelnden Baches zu setzen und zu lauschen.
Atmen Beim Robuki geht es nicht um ein technisch gekonntes virtuoses Spielen. Mit jeder Ausatmung wird nur ein Ton gespielt, wobei jeder Ton in seiner Qualität so angenommen wird, wie er ist. Dies findet ohne Leistungsgedanken oder Bewertung statt und darf, wenn es bemerkt wird, gleich wieder losgelassen werden.
Achtsamkeit Beim Robuki bleibt genügend Raum und Zeit sich beim Spielen zu beobachten. Wie atme ich? Wie stehe oder sitze ich? Sind meine Schultern locker oder angespannt? Wie locker oder fest halte ich die Shakuhachi? Wie viel Kraft braucht es, um mit den Fingern die Tonlöcher zu schließen? Kann ich die Vibration des Bambus beim Spielen der Shakuhachi spüren?
Spiel nach innen Mit jedem gespielten Ton kann ich ein bestimmtes Chakra in mir anspielen und dadurch aktivieren. Oder ich wähle eine Körperregion aus, die während des Robuki gezielt mit Tönen bespielt wird. In der Schmerztherapie gibt es z.B. eine Atem-Technik, die mit der Vorstellung arbeitet, dass die Ausatmung zu einer schmerzenden Stelle hin gelenkt wird, wodurch eine Linderung oder sogar Heilung geschehen kann.
Spiel nach außen So wie ich in meiner Intention die Töne nach innen schicken kann, kann ich sie auch nach außen lenken. In meinem Freundeskreis ist z.B. jemand erkrankt und ich schicke meine Töne dort hin, mit der Intention, dass sie tröstende und heilende Wirkung haben mögen. Welche Macht und Kraft sich hinter solchen Intentionen verbergen, hat Masaru Emoto Anfang der 90er Jahre in Untersuchungen wissenschaftlich nachgewiesen („Die Botschaft des Wassers“).
Einheit und Vielheit Robuki lässt sich alleine aber auch in einer beliebig großen Gruppe praktizieren. Bei entsprechend vielen Teilnehmer*innen kann das Klangergebnis sehr diffus und gleichzeitig auch ein Einheitserlebnis werden. Wenn z.B. 12 Teilnehmer*innen mit unterschiedlich langen Shakuhachi gleichzeitig spielen, können schräge und sehr dissonante Klänge entstehen. Dies ist, vor allem wenn harmonische und saubere Klänge gehört werden wollen, nur schwer zu ertragen und kaum auszuhalten. Das ändert sich umgehend, sobald ich mich von meiner musikalischen Bewertung loslösen kann und den Fokus allein auf die Atmung richte. Dann wird es möglich, den Klang als ein atmendes sich bewegendes Ganzes wahrzunehmen, wo jeder Ton willkommen ist.
Eine andere Kommunikation Immer wieder ist es für mich erstaunlich, dass unter den Teilnehmer*innen beim Robuki eine ungeplante und nicht festgelegte Kommunikation stattfindet, die keiner Worte bedarf. Jeder hört auf jeden, doch manchmal ist es unmöglich zu erkennen, ob der Ton der zu hören ist, der eigene oder der des Nachbarn ist. Wer zu Beginn noch unsicher ist, überhaupt einen Ton spielen zu können, kann im Zusammenspiel erleben, wie der eigene Ton von allen getragen und gestützt wird. Es kann passieren, dass alle Teilnehmer*innen gleichzeitig plötzlich aufhören und keine weiteren Töne spielen, so dass eine Spielphase gemeinsam ohne Absprache beendet wird.
Spiel Wenn der Ton sicherer kommt, kann ich ausprobieren damit zu spielen und ihn leicht verändern: lauter, leiser, mit mehr oder weniger Luft, kleinste Tonhöhenunterschiede (Intonation). So kann ich dazu beitragen, im Gesamtklang der Gruppe mehr oder weniger Spannung zu erzeugen.
Vorkenntnisse Beim Robuki sind keinerlei musikalische Vorkenntnisse erforderlich oder notwendig. In der Hauptsache geht es um ein gemeinschaftliches Atmen, dass mit der Bambusflöte verstärkt hörbar gemacht wird. So wie ich es in der Gruppe anbiete, spielen wir nicht nur einen Ton, sondern 7 Töne. Wir beginnen mit dem Ton, der entsteht, wenn alle Tonlöcher geöffnet sind. Beim 2. Ton werden alle Löcher geschlossen und ein Ton entsteht, der sich von der Tonhöhe des Vorhergehenden nur durch die Klangfarbe, nicht aber durch die Tonhöhe unterscheidet. Danach wird von oben nach unten ein Tonloch nach dem anderen geschlossen, bis alle Tonlöcher geschlossen sind und wir beim tiefsten Ton der Shakuhachi angekommen sind. Zwischen den einzelnen Tönen gibt es jeweils eine kurze Pause, zum Nachspüren des alten und zum Vorspüren des neuen folgenden Tons.
Noch nie habe ich in all den vielen Jahren, in denen ich Robuki alleine oder in der Gruppe praktiziert habe, ein langweiliges Robuki erlebt. Jedes Robuki ist einzigartig, unvorhersehbar und unberechenbar.
Dadurch, dass das Atmen und Spielen ohne Leistungsdruck geschieht, wird eine tiefe Entspannung ermöglicht, die körperlich, wie auch mental wahrnehmbar und spürbar ist. So wertvoll ist diese Erfahrung, da wir doch alle in einer Gesellschaft groß geworden sind, in der Leistung, Zeitdruck und Wettbewerb an der Tagesordnung und von uns verinnerlicht worden sind. Robuki bietet die Möglichkeit zu einem Ausgleich, dass wir über unseren Atem zu einer Einfachheit zurückfinden und dadurch heilsame Begegnungen mit uns selbst und mit anderen ermöglichen. Natürlich kann es passieren, dass zu Anfang kein Ton aus der Shakuhachi herauskommen will. Es braucht Geduld, Gleichmut und vielleicht eine kleine Portion Humor, dies auszuhalten, einfach weiterzumachen, sich immer wieder auf den Atem zu konzentrieren und sich im Gesamtklang von der Gruppe tragen zu lassen. Wir beschenken uns mit Bambusklängen, die auf sanfte Weise Atem, Körper und Geist anregen. Auf die Frage, welchen Grund es gibt, Shakuhachi zu spielen und Robuki zu praktizieren, gibt es sicherlich viele Antworten, die jeder für sich selbst herausfinden kann. Für mich gibt es eine ganz einfache Antwort: Weil es Freude macht!
Abschließend noch eine kleine Geschichte: Der Cellist und der Eine-Ton
Ein berühmter Cellist spielte im hohen Alter immer weniger virtuos und mit immer weniger Tönen. Schließlich begnügte er sich damit - sehr zum Ärger seiner Frau - nur noch einen Ton zu spielen. Eines Abends ging die Frau des Cellisten zu einem Orchesterkonzert, während er zu Hause blieb. Als sie zurückkam frage er: “Na, wie war das Konzert?“ „Es war wunderbar“ antwortete sie „… und ganz viele Töne haben sie gespielt“ ergänzte sie lächelnd und etwas provozierend. „Ja“ gab er zur Antwort „…sie alle suchen eben noch den Einen-Ton.“
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Wenn Du Lust hast, Robuki selbst auszuprobieren: Vom 15. bis 18. Mai bietet Dieter Weische das Seminar "Shakuhachi Bambusflöte" bei uns im ZBZS an. Hier geht es zur Seminarseite.