Statt Zazen im Zendo ein täglicher Check-in auf Zoom, statt Oryoki in Schalen nun Mahlzeiten, die auf Tabletten bis vor die Zimmer gebracht werden. Und an Stelle des Han, der vorläufig verstummt ist, mischt sich Husten mit Vogelgezwitscher und Baulärm (Leitungen für schnelles Internet werden verlegt!) zur aktuellen Geräuschkulisse des Johanneshofs. Seit eineinhalb Wochen leben wir im Zen-Zentrum nun nach einem Rhythmus, den der Ort und seine BewohnerInnen so noch nie erlebt haben.
Begonnen hatte es mit einem Seminarteilnehmer, der, wie sich nachher herausstellt, bei der Anreise am vorvergangenen Donnerstag schon Covid-positiv ist, trotz negativen Testergebnisses. Ich selbst bin dann der zweite, dessen Test am Sonntag positiv anschlägt; kurz nach mir testen am selben Morgen drei weitere Sanghamitglieder positiv. Noch glauben wir, dass sich die Ansteckungskette unterbrechen lässt, dass sich vor allem Baker Roshi und Ryuten Roshi schützen lassen.
Mittlerweile sind mehr als zwei dutzend Infektionen bestätigt. Etwa die Hälfte derer, die sich angesteckt haben, ist noch rechtzeitig nach Hause gefahren. Die andere Hälfte, zu der dann doch auch Baker Roshi gehört, kuriert ihre Infektion jetzt im Johanneshof und Hotzenhaus aus – bei durchgehend leichten bis milden Verläufen, also vor allem mit Husten, Schnupfen, Kopf- und Gliederschmerzen. Unsere Hoffnung, die Infektionskette früh unterbrechen zu können, hat sich leider nicht bestätigt. Dafür stellen die Impfungen (von denen Baker Roshi sogar schon vier erhalten hat) ihre Wirksamkeit aber eindeutig unter Beweis.
In der Zen-Praxis werden wir uns immer wieder unserer zahllosen Verbindungen gewahr. („Schon verbunden“ ist deshalb ein von Baker Roshi gerne genutztes Wendewort.) Viele dieser Verbindungen erscheinen uns so selbstverständlich, dass wir sie normalerweise, im Alltag, gar nicht mehr bemerken. Covid hat das radikal verändert, macht uns Verbindungen auf einmal wieder schmerzhaft bewusst: Da ist die Luft, die wir zum Leben brauchen – und ständig mit anderen Menschen austauschen. Was eben in dir war, ist jetzt in mir! Da ist die verkörperte Präsenz der anderen, die uns spürbar verändert und herstellt – in jedem Moment. Wo hörst du wirklich auf, wo fange ich wirklich an? Und da ist die Abhängigkeit von Systemen, deren Funktionieren wir routiniert voraussetzen: Kindertagesstätte, Schule, Lebensmittelversorgung, Krankenhäuser.
„Wenn ich schon Covid bekomme, kann ich mir keine anderen Menschen vorstellen, mit denen ich es lieber hätte“, sagt Ryuten Roshi bei einem unserer morgendlichen Zoom-Check-ins. Ich möchte gerne ergänzen: Ich kann mir auch keinen anderen Ort vorstellen, an dem ich es lieber gehabt hätte. Ich erlebe meine Erkrankung hier, im Kreis der Sangha, als besondere Art der Praxis. Ich spüre, wenn mir – isoliert in Hotzenhaus-Zimmer 14 – die Verbindung mit anderen fehlt, werde aber trotzdem auch in Verbindung gehalten. Ich spüre, wie schwer es mir fällt, meine Abhängigkeit von den wenigen Gesunden anzunehmen, mich als Empfänger ihrer Großzügigkeit zu erleben – ohne direkt etwas zurückgeben zu können. Ich spüre, wie sehr mich und uns alle das Nicht-wissen herausfordert: Was schützt wirklich? Wann gefährde ich andere? Wann kann ich anderen wieder sicher begegnen, auch wieder mehr beitragen?
Die aufrichtige Antwort: Wir wissen es nicht wirklich! Und das, obwohl uns ein erfahrener Mediziner (und Praktizierender) immer wieder ausführlich berät. Doch die Erfahrungen, die wir gerade miteinander machen, stellen einiges von dem, was wir über Covid zu wissen glaubten, infrage: Bei manchen sind die Selbsttests tagelang negativ, trotz Symptomen und einem positiven PCR-Test. Andere stecken sich an, obwohl sie konsequent isoliert sind und während ihrer wenigen, kurzen Kontakte Maske tragen. Was bedeutet das nun für unser Miteinander in diesen Tagen? Mich berührt, wie offen wir unser Nicht-wissen teilen, dabei gleichzeitig einen Umgang finden, der von allen getragen wird. Wir sind uns bewusst: Die Protokolle, mit denen wir uns hier gegenseitig schützen wollen, sind keine absoluten Wahrheiten, sondern einfach nur das, was wir gerade nach bestem Wissen und Nicht-wissen gemeinsam beschlossen haben.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren habe ich auch oft das genaue Gegenteil erlebt: viel Nicht-wissen-aber-wissen-wollen. Menschen, die ihre Unsicherheit kaum halten können, ihre eigenen Einschätzungen deshalb zur Wahrheit erheben – und dann erbittert gegen die Scheinwahrheiten anderer Menschen verteidigen. Ich glaube, dass sich viele Erschütterungen, die unsere Gesellschaft zuletzt erlebt hat, auf diese Hilflosigkeit im Umgang mit Nicht-wissen zurückführen lassen. Ich glaube auch, dass wir der Welt als Zen-Praktizierende viel zu bieten haben: Wie können wir uns unseres Nicht-wissens bewusst bleiben, dabei gleichzeitig klar sein, entschieden zu agieren? Dass das geht (und dann Verbindung schafft), habe ich hier in den vergangenen eineinhalb Wochen immer wieder erleben dürfen. Da wird für mich ein festes Fundament an gemeinsamer Praxis spürbar!
Am kommenden Donnerstag wird der Johanneshof aus dem Krisen- in einen Interimsmodus umschalten. Wir werden wieder täglich gemeinsam Zazen sitzen, wenn auch noch zu späterer Stunde als gewohnt. In der nächsten Wochen wollen wir dann zum gewohnten Ablauf zurückkehren. Manchen mag der Halt, die die Struktur sonst bietet, gefehlt haben. Ich habe diese Art der Praxis auch ein Stück weit genossen – morgens und abends für mich im Zimmer sitzen, dem Körper dabei mit ganz feinem Gespür begegnen, ihn sonst einfach liegen und sitzen, stehen und gehen lassen, sowie er es gerade braucht... Das ist eine Erfahrung von intuitiver Praxis, wie sie im geschäftigen, strukturierten Zentrums-Alltag sonst eher selten möglich ist.
Mein ganz herzlicher Dank geht an alle die, die dazu beigetragen haben, dass wir hier täglich zwei wunderbar zubereitete Mahlzeiten (und dazu reichlich Nahrungsmittel für eine dritte, selbst organisierte!) vor die Zimmertüren gestellt bekommen haben. An alle die, die sich mit ihren begrenzten Kräften auch noch um die Details des Krisenmanagements (mehr Mäuse im Haus durch die zum Lüften geöffneten Türen!) gekümmert haben. Und an alle die, die einfach da und gemeinsam mit mir Krankheit praktiziert haben, die diese Erfahrung mit mir geteilt und hergestellt haben. Ich wünsche euch allen weiter eine wunderbare, freudige Praxis.
Sascha Borrée war am Donnerstag vor Pfingsten in den Johanneshof gekommen, um hierweiter am Buch-Projekt, der Sangha-Chronik, zu arbeiten. Er freut sich darauf, die dafürgeplanten Gespräche mit Baker Roshi nun doch bald noch führen zu können.