Wer bin ich eigentlich, dass ich die Geschichte von Baker Roshi und der Dharma Sangha recherchiere, aufschreibe, für künftige Praktizierende dokumentiere? Die Frage habe ich mir im Verlauf dieses Jahres immer wieder mal gestellt. Nicht ver- oder -zweifelnd. (Zweifel gehören für mich selbstverständlich zum Schreiben, sie stellen aber selten meine Kompetenz ganz grundsätzlich in Frage.) Nein, die Frage zielt noch auf einen anderen Punkt: Wer oder was ist dieses Ich, dem jetzt die große Aufgabe und das große Privileg zufallen, Interviews mit Zentatsu Richard Baker Roshi, Tatsudo Nicole Baden Roshi und vielen anderen Praktizierenden der Dharma Sangha zu führen? Was ist das für ein narratives Selbst, dessen eigene Erfahrungen und Fragen nun die Arbeit an diesem Projekt, dieser Narration, färben – und damit unvermeidlich auch zurück in die Sangha, auf die Leser*innen des entstehenden Buchs, wirken?
Bei einem der vorläufig letzten Interviews, die ich mit Baker Roshi im September führte, ging es um die Frage, wie Praktizierende ihre persönliche Praxis in der Tradition der Dharma Sangha eigentlich ausdrücken sollten, welches Commitment damit verbunden ist. Mir schien, dass es recht klare Erwartungen an die ordinierten Mönche/Nonnen und Priester*innen gibt, dass die Erwartungen an Menschen, die außerhalb des Klosters leben und praktizieren, aber deutlich unklarer sind, deshalb auch deutlich weniger Orientierung bieten. Ich hakte nach, der Punkt schien mir entscheidend. Baker Roshi lächelte, beugte sich langsam vor, fragte dann: „Are you asking for yourself? Fragst du etwa für dich selbst, aus eigenem Interesse?“ Ich grinste so breit wie ein Kind, das bei einem Streich ertappt wird und jetzt maximal demonstrativ seine Unschuld zur Schau stellen will. „Nein, nein. Ich frage doch für die Leser*innen“, antwortete ich. Natürlich wusste ich, dass er wusste, dass das nicht ganz stimmte.
Hätte jemand anderes die gleiche Frage gestellt? Hätten Sie die gleiche Frage gestellt? Die Frage ist ja nicht abwegig, sie interessiert bestimmt nicht nur mich. Trotzdem hätte eine andere Person vielleicht einen anderen Aspekt der Frage betont, und Baker Roshi hätte entsprechend anders geantwortet, und seine Antwort wäre dann entsprechend anders aufgeschrieben worden. Also, wer bin ich eigentlich, der und dass ich diese Geschichte schreibe? Und was für eine Geschichte wird das überhaupt?
Zuerst zu Letzterem. Ich schreibe die Geschichte der Dharma Sangha in Deutschland und Europa: Im Sommer 1983 reiste Baker Roshi zum ersten Mal nach Westeuropa. Zwei Vorträge wollte er halten, mehr war nicht geplant, alles andere Zufall oder Fügung. (Titel des ersten Kapitels deshalb: „Niemand hat die Absicht, eine Sangha zu gründen“). Doch tatsächlich wurde schon bei dieser ersten Reise der Same gesät, aus der später die Dharma Sangha wuchs. Erste Begegnungen führten zu weiteren Einladungen. Auf weitere Vorträge bei Konferenzen folgten Seminare, die allein auf Baker Roshi zugeschnitten waren. Bald bildete sich eine Kerngruppe von besonders engagierten Praktizierenden, die immer wieder kamen, ab 1989 dann auch zu den ersten Sesshins, damals noch in einem Seminarhaus bei Hamburg. Wie sich diese Gemeinschaft weiter festigte, wie sie sich 1996 zum Kauf des Johanneshofs und 2012 zur Erweiterung des Klosters um das benachbarte Hotzenhaus/-holz entschied, wie sie Zen-Praxis hier über Jahrzehnte lebte und lebt, weiterträgt, vertieft, wie die einzelnen Praktizierenden auch mal mit sich selbst, einander oder ihrem Lehrer ringen, wie sich manche nach langen Phasen intensiver Praxis aus der Sangha lösen, andere bis heute hingebungsvoll dabei sind – das alles erfahre ich in dutzenden Interviews: Mein Rohstoff für ein Buchprojekt, mit dem mich Nicole Baden, Tatsudo Roshi, beauftragt hat.
Das Jahr 2021 verbringe ich im Rahmen des Projekts zur Hälfte mit der Johanneshof-Hausgruppe. Ich erlebe also eine Zeit, die so vieles verändert, in Frage stellt. Am Tag nach meiner Anreise am 30. November 2020 beginnt das traditionelle Rohatsu-Sesshin – zum ersten Mal ohne Gäste, dafür mit Kameras und Live-Übertragung für eine Sangha im Lockdown. Ein paar Wochen später bittet mich Nicole um Unterstützung bei der Übersetzung eines Briefs von Baker Roshi an die Sangha. Ein historisches Dokument, wie ich beim ersten Lesen begreife: Baker Roshi erklärt Nicole Baden offiziell zu seiner Nachfolgerin, zur Lehrlinienhalterin!
Nachfolge, neue Strukturen, digitale Praxis und Lehre… Themen, die die Sangha vor allem in den ersten Monaten meines Aufenthalts stark beschäftigen. Daneben läuft die reguläre Praxis, auch in der Pandemie. Morgens Zazen, Oryoki, Arbeitszeit, mehr Arbeit nach dem Mittag, dann abends wieder Zazen. Gäste dürfen im Winter2020/21 nicht empfangen werden. Helfer*innen, die in der Küche, bei den Sanierungs- und Wartungsprojekten am Haus oder den neuen Digitalprojekten mitarbeiten, aber schon. Wer von außen dazu kommt, muss sich für fünf Tage isolieren, entweder vor der Anreise in den eigenen vier Wänden oder danach im Quarantäne-Zimmer des Johanneshofs. So sind wir mal nur zu dritt, mal immerhin 15 Leute. Wöchentlich spreche ich per Zoom mit Baker Roshi, der zu der Zeit die Praxisperiode im Crestone Mountain Zen Center leitet. Wenn sie es einrichten kann, schaltet sich auch Nicole zu. Schrittweise arbeiten wir uns durch die Jahre und Jahrzehnte vor. Zwischen den Interviews recherchiere ich in alten Unterlagen, spreche mit anderen Praktizierenden, die bestimmte Phasen der Sangha-Entwicklung entscheidend geprägt haben: Menschen mit Karrieren, Kindern und Krankheiten, Schulden oder Häusern, Sorgen und Freuden, Erfolgs- und Verlusterfahrungen. Menschen, die ein ganz weltliches Leben führen – und daneben, teilweise seit Jahrzehnten, mit Hingabe praktizieren. Parallel zu den Gesprächen beginne ich die ersten Textentwürfe. Aus vielen einzelnen Fäden und Strängen entsteht so langsam ein Gewebe, eine komplexe Geschichte.
Manchmal fühle ich mich ernsthaft erschöpft, gerade nach den Interviews mit Baker Roshi – wohl aus mehreren Gründen: Zum einen kostet der virtuell-digitale Dialog im Lockdown-Winter sicherlich mehr Kraft als ein verkörperter Austausch. Dann ist da Baker Roshis assoziativer Antwort-Stil, der von mir verlangt, dass ich meine Erwartungen mit großer Leichtigkeit halte, aber eben doch nicht ganz loslasse. Manchmal stelle ich eine Frage, die sich – wie ich annehme – in drei bis fünf Minuten beantworten ließe. Doch für seine Antwort nimmt sich Baker Roshi dann gerne mal eine halbe Stunde, meine Agenda des aktuellen Meetings wird damit hinfällig. Auch bei Themen, die sich auf die jüngere Vergangenheit beziehen, beginnt Baker Roshis Antwort oft weit ausholend so: „Back then in the 60s, in San Francisco… Damals, in den 60ern, in San Francisco…“
Meistens höre ich gerne zu, bin dankbar für die direkten Augenzeugenberichte von Ereignissen, die ich sonst nur aus Büchern und Vorträgen kenne (begonnen mit einer fürs westliche Zen fast schon legendären Samurai-Luftschwerteinlage, die der junge Richard Baker Anfang der 60er in einer der spirituellen Buchhandlungen San Franciscos hinlegt – und die den Buchhändler dazu motiviert, seinen energischen Kunden zum damals noch vollkommen unbekannten Zen-Priester Shunryu Suzuki zu schicken). Bei anderen Erzählungen, etwa über frühe Erwachensmomente in seiner Kindheit, sagt Baker Roshi: „Oh, I never talked about that to anybody before. Das habe ich noch nie jemandem erzählt.“ Und manchmal scheint er selbst zu staunen: „By talking about these things again after all these years I’m starting to see them in a new light. Indem ich nach so vielen Jahren wieder drüber rede, beginne ich manche Dinge in neuem Licht zu sehen.“
Ich selbst sehe meine Aufgabe darin, einen Raum zu öffnen, viel Raum zu geben, so dass Baker Roshi seine Erinnerungen entfalten kann. Natürlich auf seine Art, nicht auf eine von mir erwartete. Gleichzeitig braucht es meine Fragen, auch mein Einhaken und meine Einwände, wenn ich die Zusammenhänge so gar nicht mehr sehe,oder wenn sich seine Erinnerungen nicht ganz decken mit dem, was mir andere Praktizierende erzählen. Bei Erinnerungen, die teilweise mehrere Jahrzehnte alt sind, ist der eine oder andere Widerspruch nichts Ungewöhnliches, sondern im Gegenteil eher erwartbar. Und dann ist es eben mein Job, mit Blick auf alle verfügbaren Quellen die plausibelste Variante der Ereignisse zu rekonstruieren. Anders als bei einem Teisho, einem Zen-Vortrag, über den Lehrende oft sagen, es komme gar nicht so sehr aufs bewusste Verstehen an, will und muss ich Baker Roshis Berichten also kognitiv folgen können. Schließlich geht es bei den Gesprächen in erster Linie um die Chronik der Dharma Sangha, das Buchprojekt – und nicht um meine eigene Praxis.
Aber natürlich geht es auch um meine eigene Praxis, jedenfalls für mich. Anders wäre das wohl kaum möglich: Wie könnte ich dutzende tief gehende Gespräche mit einem der einflussreichsten westlichen Zen-Lehrer führen und meine eigene Praxis davon unberührt, abgespalten, lassen? Dazu kommt: Nach fast 25 Jahren der Arbeit als Autor, Journalist und Übersetzer und rund zehn Jahren dharmischer Praxis, nach Zen-Praxis in Göttingen, Vancouver und San Francisco, nach Praxisperioden in Green Gulch und Tassajara, erreicht mich das Projekt an einem Wendepunkt, in einer Wendephase: Ich möchte mich in Beruf und Beziehungen neu ausrichten, grundsätzlich neu verorten. Und erlebe dabei ein raues Wechselspiel von Mut und Zweifel, Aufbruchsstimmung und Sicherheitsbewusstsein. Was kann ich also selbst lernen aus diesen Gesprächen, die ich führe? Aus diesen Erzählungen von großer Entschlossenheit, von Hingabe und weiten Horizonten, aber auch von Konflikten, Schmerzen und Verletzungen? Die Frage wirkt nach den Interviews halb bewusst in mir weiter. Auch das ist sicherlich ein Grund für die Erschöpfung, die ich zwischendurch spüre – und die von der klösterlichen Struktur getragen werden kann.
Ende März verlasse ich den Johanneshof, Ende September kehre ich zurück – für letzte, jetzt persönliche Gespräche mit Baker Roshi, der Herbst und Winter wieder in Amerika verbringen wird, und um weiter konzentriert, im Praxisfeld, an den Texten zu arbeiten. Das halbe Jahr, das seit meinem letzten Aufenthalt vergangen ist, hat den Johanneshof schon spürbar verändert. Einige Bewohner sind aus-, andere neu eingezogen; teilweise mit der Absicht, auf unbestimmte Zeit zu bleiben, die Praxis hier dauerhaft mitzugestalten. Wir dürfen zwischenzeitlich wieder Gäste empfangen, und nicht wenige der Besucher*innen kommen zum ersten Mal, lassen sich nervös-fasziniert in die Oryoki- und Zendo-Etikette einführen. Die Energie des Orts fühlt sich pulsierender an als im Lockdown-Winter. Oder ist das nur mein persönlicher Eindruck?
Da sind wir also wieder bei meiner Eingangsfrage: Wer bin ich, der und dass ich die Geschichte der Dharma Sangha, die Geschichte von Baker Roshi, schreibe? Den Ansatz einer biografischen Antwort habe ich weiter oben versucht. Eher dharmische Antwort-Versuche gingen vielleicht so: Ich bin der, der jetzt von seinem Schreibtisch im sogenannten Blauen Zimmer aufblickt, den drei großen, kahlen Linden mit ihren Winterzweigen beim Bäumen zuschaut. Ich bin der, der hört, wie unten zum Essen geklingelt wird, noch einen letzten Satz zu Ende bringt. Ich bin der, der diese Chronik schreiben darf – und dafür gerade sehr dankbar ist.
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