Liebe*r Sangha-Freund*in,
ich erinnere mich gerade daran, wie ich im letzten Jahr um diese Zeit genau hier, wo ich auch heute sitze, den damaligen Neujahres-Brief gemeinsam mit Baker Roshi per Video-Konferenz erarbeitet habe. Als ich Roshi vor ein paar Tagen wieder anrief, um den aktuellen Brief zu besprechen, hörte er sich meine Fragen und Ideen in aller Ruhe an. Dann sagte er: "Viel Glück beim Schreiben. Grüß die Leute mal von mir." Das ist hiermit nun geschehen.
Baker Roshi wird ab Ende Mai zurück im ZBZS sein. Er wird mehrere Veranstaltungen leiten, und er plant, auch die Sonntagsvorträge im kommenden Jahr weiter online anzubieten. Als Lehrer bleibt er also sehr präsent. Gleichzeitig überträgt er institutionell zunehmend Verantwortung an eine nun gereifte und reifende Sangha. Die Dharma Sangha, das sind inzwischen viele Menschen, die unsere Gemeinschaft auf ganz verschiedenen Ebenen tragen: von der Gruppe der Mitglieder über die Hausgruppe, die ehrenamtlichen und professionellen Mitarbeiter*innen und die Gesellschafter*innen bis hin zum Abtsrat. Wir haben sinnvolle, effiziente und partizipative Strukturen entwickelt, mit denen wir einer Ausrichtung folgen, die, dank Baker Roshi, klar in unseren Köpfen und Herzen verankert ist. Er sagt: "Die Vergangenheit birgt ein Vermächtnis, die Gegenwart die Tatsächlichkeit des Augenblicks und die Zukunft, in ihrer Unvorhersehbarkeit, ein Feld der Möglichkeiten." Roshi lehrt uns das unnachgiebig. "Wenn wir es uns vorstellen können, dann ist es auch möglich", fügt er hinzu. Für das kommende Jahr wünsche ich mir, dass wir die Dharma Sangha weiter mit dieser hoffnungsvollen Zuversicht gemeinsam gestalten und entwickeln.
Im nun zur Neige gehenden Jahr gab es nicht nur einige bemerkenswerte Entwicklungen. Es gab auch eine "Entwicklung des Bemerkens": Wenn sich Perspektiven ändern, müssen Entscheidungen neu verhandelt werden. Im Hintergrund fast aller Entwicklungen des Jahres 2022 stand und steht eine uralte Frage, der wir uns als Dharma Sangha neu widmen: Wie gestalten wir das Verhältnis zwischen Kloster und Gesellschaft? Wie artikulieren wir die Spannung und die Dynamik, die Unterschiede und das Gemeinsame, auf eine bewusste und sinnvolle Art und Weise?
Wer das berühmte, von Zen-Meister Dogen Zenji gegründete Kloster Eiheiji im japanischen Fukui besucht, wird vor ein großes Tor geführt, das Sammon, das Berg-Tor. Man darf aber, als Besucher*in, nicht hindurchgehen. Das Sammon darf nur von Menschen durchschritten werden, die im Eiheiji ausgebildet werden wollen. Diese Menschen durchschreiten es dann zweimal in ihrem Leben: Zuerst, wenn sie um Aufnahme ins Kloster bitten, und ein weiteres Mal, wenn sie das Zen-Training beendet haben, das Kloster also wieder verlassen. Auf der einen Seite des Tores steht in japanischen Schriftzeichen geschrieben: "Eiheiji ist eine Familie. Diese Familie ist sehr streng. Wenn du nach Ruhm und Reichtum suchst, darfst du dieses Tor nicht durchschreiten". Auf der anderen Seite hingegen heißt es, "Dieses Tor hat keine Türen, kein Schloss, man braucht keinen Schlüssel und es gibt keine Ketten. Es steht immer offen. Aber wenn du nach Status oder Macht strebst, dann kannst du hier nicht eintreten."
Diese zwei Aussagen beschäftigen mich seit Jahren: Was bedeuten sie, wenn wir sie auf die Praxis im ZBZS und in der Dharma Sangha übertragen? Was sollte vor den Toren bleiben, damit das Kloster ein Kloster bleibt? Und was kann im Gegensatz dazu gar nicht außen vor bleiben, einfach, weil es uns als Teil dieser Welt nun mal betrifft? Ich glaube, von Letzterem gibt es in unserer Zeit so einiges. Wir haben es heute oft mit Themen zu tun, die nicht mehr lokal begrenzbar sind, sondern global wirken. Das Artensterben, die Klimakrise, Kriege im Zeitalter des nuklearen Wahnsinns, politisch-systemische Paradigmen: Diese Dinge machen weder vor Landesgrenzen noch vor den Toren eines Klosters halt.
Ein Kloster ist kein abgeschlossener Raum, sondern es ist ein Ort, der der kollektiven, von der Sangha getragenen, Evolution der Lehren gewidmet ist. Die klösterliche Praxis darf kein Selbstzweck sein, sondern sie steht im Dienste des Mitgefühls und des Wohles aller Wesen. Seit November dieses Jahres leben erstmals mehr als acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Gemeinsam stehen wir alle, steht die Menschheit, jetzt vor einer überlebenswichtigen Aufgabe: Wir müssen von planetaren Schädlingen zu "Nützlingen" werden. Ein Teil des dafür notwendigen Wandels wird auf der Ebene grundlegender Weltanschauungen stattfinden müssen. Es braucht eine "Entwicklung des Bemerkens", eine Transformation des Geistes, eine Herauslösung unserer Identität aus dem "Kopf-Geist" und eine Neu-Verankerung unseres Denkens, Fühlens und Handelns in einem "beherzten Geist", einem "mit Herz erfüllten Geist" - ganz im Sinne des japanischen Begriffes "shin". Auf dieser Ebene kann die Dharma Sangha etwas Wertvolles beitragen. Und diesen Beitrag werden wir leisten.
Doch welches Maß an gesellschaftlichen Themen tut einem Kloster eigentlich gut? Wie können wir die Lehren inhaltlich so konkretisieren, dass sie klar ihre erfahrungsbasierte und werteorientiere Integrität behalten, dabei aber eine politische Fixierung vermeiden? Das sind Fragen, die wir uns jetzt immer wieder stellen. Zen verändert sich ständig, und es ist unsere Aufgabe, diese Veränderung bewusst mitzugestalten. Spannungen zwischen althergebrachter Tradition und neuen Perspektiven ergeben sich dabei auch mit Blick auf die Erweiterung des physischen Praxisplatzes in den virtuellen Raum hinein: Nun, da der Ausnahmezustand der Pandemie in eine Art neue Normalität überzugehen scheint – wie viel Livestream ist da noch angemessen und sinnvoll? Eine Kamera im Zendo verändert den physischen Raum auf eine befremdliche Art und Weise. Aber hunderte von Sangha-Mitgliedern melden uns mittlerweile, dass sie der Zoom-Livestream stark in ihrer Alltags-Praxis unterstützt - und damit natürlich auch unsere dharmische Reichweite vergrößert.
Sangha-Entwicklung - Eine Geschichte in Zahlen
Unsere Reichweite vergrößert sich auch vor Ort. Die Sangha wächst, und das bringt uns insgesamt an einen neuen Punkt. Ich beschreibe die Entwicklung kurz in Zahlen: Das ZBZS hat in diesem Jahr rund 460 Praktizierende empfangen. 300 davon waren zum ersten Mal hier. (Was übrigens ebenfalls weitere Fragen aufwirft: Welche Anliegen sind gut in einem Zen-Kloster aufgehoben, und wann wäre es besser, auf eine psychologisch orientierte Arbeit zu verweisen?) Die meisten dieser Erstbesucher*innen haben uns über das Internet gefunden. Unser Newsletter-Verteiler ist in den letzten zwei Jahren, seit dem Start der neuen Webseite, um 62 Prozent gewachsen – insgesamt 1.650 Menschen erhalten nun regelmäßig elektronische Post von uns. Der Kreis der Mitglieder der Dharma Sangha hat sich im vergangenen Jahr sogar mehr als verdreifacht – von 97 auf 315 Personen.
Auch die Hausgruppe ist gewachsen: Sechs Menschen tragen die klösterliche Praxis im ZBZS schon seit Jahren, teils seit Jahrzehnten. Weitere fünf entschieden im vergangenen Jahr, ihren Lebensmittelpunkt auf unbestimmte Zeit hierher zu verlegen. Insgesamt wird die Hausgruppe im kommenden Jahr wohl rund 15 Personen stark sein. Das klingt nach einem kräftigen Zuwachs, ist aber tatsächlich gerade mal eine Minimalbesetzung, die wir inzwischen einfach benötigen, um die vor Ort anstehenden Aufgaben zu erledigen.
Andrea Anglhuber, eine der neuen Hausbewohner*innen, wird künftig die Position der "Zentrumsleitung" übernehmen und mich damit weitestgehend von meinen bisherigen organisatorischen Aufgaben entbinden. Zusätzlich beschäftigen wir inzwischen auch fünf externe Kräfte für spezialisierte Aufgaben wie Webdesign oder für die Buchhaltung. Diese Professionalisierung ist absolut notwendig. Bisher wurden viele der entsprechenden Arbeiten von klösterlichen Hausbewohner*innen mit erledigt. Solche Jobs erfordern aber viel Zeit, einen besonderen Fokus und ein spezialisiertes Knowhow, sind daher vor allem für Menschen in ihren frühen Praxisjahren kaum mit dem klösterlichen Leben vereinbar. Dieser Schritt hin zur Professionalisierung ist also auch eine enorme Entlastung und Stärkung des klösterlichen Praxisfeldes.
Viele weitere essenzielle Aufgaben – die Geschäftsführung, die Campus-Entwicklung, die Staff-Supervision – werden von langjährig Praktizierenden ehrenamtlich ausgeübt. Die Mitglieder des Gesellschafter-Gremiums und des Abtsrats erledigen ihre unverzichtbare Arbeit ebenfalls ohne finanzielle Gegenleistung. Auch dieses Schreiben ist mit unentgeltlicher Unterstützung entstanden, genauso wie die Jahresbroschüre.
Ich beschreibe das hier so detailliert, weil wir kraft- und substanzehrende Jahre der Instabilität und Improvisation hinter uns haben. Und nun fühlen wir uns zum ersten Mal seit langer Zeit recht nah dran an einer Größe und Organisationsstruktur, mit der diese Sangha und dieser Praxisplatz stabil überdauern können. Ein Ergebnis, das wir alle zusammen erreicht haben. Dieser Ort, diese Praxis, ist nur im Miteinander möglich. Die Hausgruppe erlebt das Tag für Tag ganz konkret. Daher im Namen der Hausbewohner*innen: Ein großes, herzliches Dankeschön an alle, die ihre Beiträge geleistet haben und weiter leisten.
Ein kurzer Rückblick: Die wichtigsten Ereignisse im Jahre 2022
Was waren nun die wesentlichen Ereignisse, die die Dharma Sangha im letzten Jahr beschäftigt und geprägt haben? Ich möchte hier nur einen kurzen Rückblick bieten, einige Entwicklungen grob skizzieren: Da war am Jahresanfang die dreimonatige Praxisperiode im Crestone Mountain Zen Center (CMZC), zu der auch elf Praktizierende aus Europa reisten. Aus der Perspektive der Praxis betrachtet, war dies eine ganz besonders kraftvolle, sogar transformative Zeit. Mehrere Teilnehmer*innen trafen während dieser drei Monate die Entscheidung, sich der Zen-Praxis langfristig zu verschreiben. Die 28. Praxisperiode im CMZC gab uns außerdem Gelegenheit, bereichernde und sich weiterhin entwickelnde Beziehungen mit den Praktizierenden der amerikanischen Sangha herzustellen. Zeitgleich fand im ZBZS der erste Praxismonat unter der Leitung von Shosan Gerald Weischede Roshi statt. Das war wunderbar! Und wir freuen uns sehr, Shosan Weischede Roshi künftig jedes Jahr für längere Zeit als Lehrer vor Ort zu haben.
Im Juni mussten wir das ZBZS dann wegen eines Covid-Ausbruchs für insgesamt drei Wochen schließen. Inzwischen haben wir verlässliche Abläufe für einen Umgang mit dem Virus entwickelt. Solange es nicht signifikant weiter mutiert, sind wir zuversichtlich, künftig gut und verantwortungsvoll mit Covid umgehen zu können.
Eine weitere, besonders bemerkenswerte und abenteuerliche Entwicklung ist die Verwirklichung des Sangha-Wohnprojekts auf dem Nachbargrundstück neben dem Johanneshof, direkt gegenüber vom Zendo. Gunda Wolter schreibt in einem lesenswerten Bericht, den Du auch auf unserer Webseite findest: "Wir übernehmen das Gebäude, den Garten, den Platz - wir nehmen es in Besitz. (...) Seit dem Jahr 2017 sind wir engagiert, einen Platz nah am Johanneshof zu finden, auf dem Sangha-Mitglieder unabhängig wohnen und verbunden mit dem Kloster praktizieren können. (…) Und nun ist (das Projekt) tatsächlich realisiert worden!" Wir Hausbewohner*innen freuen uns sehr auf unsere neuen Nachbarn! Dieses Projekt wird das Sangha-Leben im ZBZS sicherlich nachhaltig prägen: Wir dürfen gespannt sein!
Neben und inmitten der größeren Sangha-Ereignisse hat natürlich jede*r von uns sein oder ihr eigenes Jahr mit der Dharma Sangha erlebt, mit eigenen Geschichten, eigenen Erfahrungen. In meiner persönlichen Geschichte dieses nun vergehenden Jahres schwingt viel Dankbarkeit und auch ein Staunen über all das, was wir selbst unter widrigen Umständen auf den Weg gebracht haben. Ich sage es nochmal und ich denke, dieser gesamte Brief bestärkt den Punkt: Die Dharma Sangha ist nur als Miteinander möglich. Ich freue mich über jeden Faden, der sich in unsere kollektive Entwicklung hineinwebt - und hoffe, auch Dich im kommenden Jahr, irgendwo, online oder vor Ort, zu sehen!
Die Tore der Praxis stehen in leerem Raum. Ihre Präsenz reicht weit über den Grund und Boden des Klosters hinaus. Welche Inschrift tragen Deine Tore? Lasst uns gemeinsam einen Raum aufspannen, in dem sich die Tatsächlichkeit unserer Existenz in ihre, teils verborgenen, Möglichkeiten hinein öffnet. "Wenn wir es uns vorstellen können, dann ist es auch möglich." Und, würde ich sagen, manche Dinge sind möglich, auch wenn wir sie uns noch nicht einmal vorstellen können.
Ich wünsche Dir einen schönen Ausklang des Jahres 2022 und einen guten und hoffnungsfrohen Start in das kommende Jahr.
Mit herzlichen Grüßen
Tatsudo Nicole Baden
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