Anmerkungen zum Denken in Zazen
Dogen sagt: „Denke Nicht-Denken." Dies ist ein klassischer und auch entscheidender Ratschlag für Zazen. Es ist fast ein Abbild der Erfahrung des Nicht-Denkens in Worten. Aber es ist auch ein Ratschlag für Fortgeschrittene.
Wir können lernen, das Denken zu beobachten. Ohne es zum Sitz unserer Identität und Kontinuität zu machen.
Die Übung des ´stillen Sitzens' in Zazen läßt unser Denken klarer werden. Dies ist eine der ersten Wirkungen von Zazen. Wenn unser Körper wirklich ruhig ist und unser Geist still wird, können wir tatsächlich sehen, wie das Denken stattfindet — und wie es immer präziser wird. Durch das Stillsitzen können wir lernen, das Denken zu beobachten, ohne es dabei zum Sitz unserer Identität und Kontinuität zu machen. Das läßt uns um die Ecke des Denkens sehen, hinter und durch das Denken. Dabei wird es transparent.
Wir können die Emotionen, in die das Denken eingebettet ist, fühlen und erkennen. Und durch das Geflecht der Emotionen können wir das reine Feld des Geistes, in dem das Denken entsteht, fühlen und sehen. Das ist gut für uns und notwendig für die Praxis. Es geschieht durch das Beobachten der Gedanken in Zazen und im Schauen über die Gedanken hinaus. Zum Nutzen unserer persönlichen Entwicklung ist es gut, unser Denken zu klären; und für die Entwicklung der Zen-Übung ist es notwendig, das Denken zu klären, und zu lernen, das Denken zu beobachten, ohne störend darin einzugreifen.
Sich dem Fluss des assoziativen Denkens öffnen
Weiterhin ist es während der ersten beiden Jahre der Sitzübung ganz besonders für Praktizierende aus dem Westen wichtig, sich dem Fluß assoziativen Denkens zu öffnen, der aus dem Alaya-Vijnana hervorgeht. Dieser buddhistische Begriff beschreibt den netzartigen Speicher von Erinnerung, Karma sowie unbewußten und nichtbewußten Assoziationen. Die Öffnung gegenüber dem Alaya-Vijnana durch den Zazen-Geist erlaubt uns eine bewußte Überprüfung des Lebens. Ebenso kann sie uns die Gelegenheit geben, die unverwirklichten parallelen Leben kennenzulernen, die oft unter unserem bewußten Leben fließen — einschließlich paralleler Buddha-Leben; und Sie erlaubt uns eine größere Offenheit gegenüber den unerkannten Einsichten und Erleuchtungen, die uns vielleicht ohne unser Wissen zur Praxis geführt haben.
Wir Menschen aus dem Westen haben — in einem anderen Sinn als die Menschen in Asien, wo sich der Buddhismus entwickelt hat — eine persönliche Geschichte, die das Medium und den Fokus unserer Identität und Psyche bildet. Unsere westliche „Psyche-als-Geschichte" sollte verstanden und entfaltet werden — und nicht verneint oder beiseite geräumt durch allzu vereinfachte Zen-Anleitungen wie: „Denke nicht in Zazen." Eine bessere Anleitung wäre: „Identifiziere dich nicht mit deinem Denken. Lass dein Denken einfach kommen und gehen, ohne dich damit zu identifizieren." Natürlich gehört unser Denken uns, aber es umfasst keineswegs vollständig, wer wir sind und wie wir existieren.
Viele Aspekte unserer Geschichte und unseres Geistes können im Zazen-Geist hervortreten
Einer der besten Wege, unsere persönliche Geschichte und die damit verknüpfte Identität zur Reife zu bringen, ist es, einfach so vertraut wie möglich damit zu werden; uns unsere Geschichte zu erzählen und sie dabei sich selbst erzählen zu lassen — uns vom Alaya-Vijnana die ihm bekannte Geschichte zeigen zu lassen und uns so gegenüber den Erinnerungen und Formationen zu öffnen, die durch die selektive Natur des Bewusstseins ausgeklammert werden. Es gibt viele Aspekte unserer Geschichte und unseres Geistes, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, die aber im ganzheitlicheren Zazen-Geist hervortreten können. Ein vollständigeres Verstehen von Wesen, Geist und Geschichte erweitert unser Verständnis des Lebens und transformiert die Beziehung zu unserer persönlichen Geschichte und unsere Verbundenheit mit der Welt. Unsere Geschichte, Karma und Geist werden transformiert durch die Klarheit, den Fluss an Einsichten, die Losgelöstheit und das Alles-Aufnehmende des Zazen-Geistes.
Wir können durch den Geist hindurch auf dessen grundlegende Stille blicken
Aber Zazen wäre nicht Zazen, wenn es allein produktiv, voller Einsichten und in karmischem Sinn fließend wäre (auch wenn dies schon eine ganze Menge ist). Die Ruhe und das stille Sitzen von Zazen inmitten der Bewegung des Geistes erlauben uns, durch den Geist hindurch auf dessen grundlegende Stille zu blicken; hinter den gestalteten Inhalt des Geistes zum Nicht-gestalteten, wo „kein einziger Gedanke geboren wird." ,Grundlegende Stille' ist kein toter Ort, sie ist eine Art von Aktivität und Funktionsweise ein Wissen um und eine Bedingung für die ,Große Funktion' des Seins.
Durch Zazen können wir das Denken und die Grundlage des Geistes selbst klären und uns dann — durch die Fähigkeit, zwischen, unter und um das Denken herum zu sehen — von den abschweifenden Gewohnheiten des gewöhnlichen Bewusstseins befreien. Im Sinne Dogens können wir dann ´denken’, indem wir ohne zu denken im Zustand des Denkens gegenwärtig sind. Auf diese Weise hält man das gewöhnliche Denken in einer Art Schwebezustand und erlaubt so der Welt, mit und durch uns zu denken, und erlaubt uns den Moment, durch die Welt zu denken und zu handeln. In diesem Zusammenhang meine ich mit ´Welt': die Möglichkeiten der ´Welt-in-uns-in-diesem-Moment', und damit wiederum meine ich: die Fülle der drei Zeiten, getragen als dieser Augenblick, ausgeglichen als Unmittelbarkeit und Möglichkeit. Diese Möglichkeit erkennen wir durch unser eigenes Gleichgewicht.
Wir uns die Welt "denken" durch unser Nicht-denken
Die Welt bewegt die Welt, die Gegebenheiten und die Objekte der Achtsamkeit im ´Modus des Denkens', ohne diskursives Denken. Wir und die Welt ´denken' daher durch unser Nicht-Denken. Dies ist ein Beobachtungs-Modus, ein Wissens-Modus, der wie üblich denkt, den Rahmen der Beobachtung aber auflöst und sich jenseits des Denkens in die Verwirklichung des SEINS selbst bewegt. Es ist eine Art von Aufmerksamkeit, Wissen und Funktionieren ohne Gedanken, im umfassenderen Zusammenhang des SEINS. (Wenn ich ´SEIN' anstelle von ´Sein' schreibe, meine ich ein SEIN, das die erfahrbare Dialektik von Sein/Nichtsein einschließt.)
Sehen wir uns diese Geschichte von Yaoshan (763 — 840) an, der das Zazen von Nichtwissen und Nichthandeln sitzt. Eines Täges saß YaoShan, der Schüler von Shitou, still in Zazen. Shitou fragte ihn: „Was tust du?" Yaoshan antwortete: „Ich tue nichts." Shitou sagte: „Dann sitzt du müßig herum." Yaoshan sagte: „Wenn ich müßig herumsitzen würde, wäre das ein Tun." Shitou sagte: „Du sagst, du tust nichts? Was ist es denn, das du nicht tust?" Yaoshan sagte: „Nicht einmal die ehrwürdigen Vorfahren wissen das."